Mittwoch, 07. Dez. 2016, 18 Uhr, Theatertreff, Neubrückenstraße 63, 48143 Münster |
Lesung und Diskussion mit Claus Leggewie
Moderation: Wilhelm Breitenbach, Debatte e. V.
Eintritt: 5 Euro. Zahlungsweise wird bei Sitzplatzreservierung mitgeteilt (bitte per E-Mail).
Über Europa, europäische Werte und Anti-Europäer
Griechenland, Euro-Krise und der Umgang mit Flüchtlingen haben nachdrücklich gezeigt, dass die EU mit großen Problemen fertig werden muss. In dieser kritischen Lage mehren sich Stimmen unterschiedlichster Provenienz, die Europa attackieren und europäische Werte infrage stellen: Identitäre wie der Massenmörder Anders Breivik, Dschihadisten wie der Syrer Abu Musab al-Suri, »Eurasier« wie der Putin-Berater Alexander Dugin, aber auch einige Linkspopulisten am Rande von Syriza und Podemos. Sie alle stellen – wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven – die politische Union und die europäische Demokratie so radikal infrage, wie es seit 1945 keine politische Bewegung mehr getan hat.
Claus Leggewie porträtiert diese politischen Unternehmer, die unabhängig voneinander, aber oft in ungewollter Komplizenschaft die „Festung Europa“ schleifen wollen. Er identifiziert sie als Feinde der Aufklärung und der Demokratie, denen Freiheit und Gleichheit verhasst und Europa und der Westen ein Inbegriff ihrer Feindschaft sind. Eine zentrale Gemeinsamkeit sei – so Leggewie –, ihnen sei das Konzept des westlichen Individuums verhasst.
Leggewie erklärt, woher sie kommen und welche Pläne sie verfolgen. Wären sie auch nur teilweise erfolgreich, so sein Resümee, stünde am Ende ein radikal anderes, autoritäres, fundamentalistisches Europa: statt kulturellem Pluralismus weiße Suprematie, statt Religionsfreiheit Gottesstaat, statt Demokratie Autokratie, statt Gleichberechtigung Patriarchat, statt Individualität Unterwerfung.
Und Leggewie fordert dazu auf, sich endlich politisch mit den sog. Anti-Europäern auseinanderzusetzen. Und dabei nicht stehen bleiben, sondern auch eine Alternative aufzuzeigen. So meint er in der TAZ vom 29.6.2016 auf die Frage, wie so eine gelungene europäische Erzählung aussähe: „Eine Erzählung davon, wie wir in den nächsten beiden Jahrzehnten ein nachhaltiges Europa schaffen, aber auch eines, das sozial gerechter ist, das öffentliche Räume erhält und schafft, das lebenspraktisch klarmacht, welche Vorzüge europäische Urbanität besitzt, wie eine Kultur des Pluralismus aussieht. Vieles von dem existiert ja längst. Aber wir müssen präziser beschreiben, was wir an Europa gut finden, es ausmalen, so dass das Bild zukunftsfest und für künftige Generationen anziehend ist. Da ist besonders die mittlere Generation gefragt, die im Beruf, im Alltag, im sozialen Engagement Europa sozusagen täglich lebt und baut, dies aber zu wenig nach außen deutlich macht. Eine attraktive europäische Agenda gibt auch Antworten auf die offenen Integrationsfragen, die Alteingesessene nicht minder betreffen. Weil auch Alteingesessene keine Wohnung und keine vernünftige Arbeit finden. Gleichzeitig müssen wir diese Probleme im Kontext der sozialen Ungleichheit betrachten. In diesem Fall: der Knappheit auf dem Wohnungsmarkt.“
Und jetzt kommt Trump dazu. Claus Leggewie hat sich in der TAZ vom 10.11.2016 zur US-Wahl geäußert, nachdem er zwei Wochen durch die USA gereist war. Hier sieht er die „Morgenluft für Ideologen“ und analysiert Trumps völkisch-autoritären Nationalismus.
„Ich habe es fast kommen gesehen. Die Anti-Globalisierungs-Rhetorik und Trump und auch Sanders haben in diese Richtung gedeutet, dass die Karten neu gemischt werden sollen. Aber dann habe ich meiner eigenen Analyse misstraut und gedacht, es wird noch mal irgendwie gut gehen. Das zeigt, wie falsch wir im linksliberalen Milieu die Dinge einschätzen. Dass wir unterschätzen, wie stark die Entfremdung insbesondere von Menschen aus der Arbeiterschicht in Europa und den USA vom politischen System und auch von dessen normativen Grundlagen geworden ist. Aber wenn Arbeiter für Trump, Le Pen, Strache oder die AfD stimmen, muss man deutlich machen, dass es sich um eine Art von verschobenem Klassenkampf handelt. Für die Verwerfungen, die eine turbokapitalistische Entwicklung gebracht hat, werden nicht deren Nutznießer verantwortlich gemacht, sondern die Fremden.“
Und was ist der Ausweg, ob in den USA, in Europa oder direkt in Deutschland? Eine Idee, nicht die Lösung: Claus Leggewie und Patrizia Nanz hatten im Frühjahr 2016 ein neues Buch vorgelegt: „Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung“. Leggewie schlägt eine Form für das neue Narrativ vor. „Ja, er beginnt mit einer Form und nicht mit einem Inhalt. Diese Form sieht er in den „Zukunftsräten“, einem Modell der Bürgerbeteiligung, in dem Partizipationswillige sich zur vierten Gewalt im Staate, zur „Konsultativen“, also zur beratenden Gewalt, formieren sollen. Hier soll die „Weisheit der Vielen“ sich artikulieren, erstreiten, formulieren. Diese „Zukunftsräte“ sind ein Bürgerbeteiligungsverfahren, das Zukunftsthemen – von der Endlagersuche bis zur Flüchtlingsthematik – konkret behandeln und beraten soll. Konkret heißt dabei: vom eigenen Betroffen sein ausgehend, gesellschaftliche Lösungen erstreiten. Das Narrativ sollte sich also als Zukunftserzählung aus dieser Form entwickeln.“ (TAZ vom 29.6.2016)
Und hier kommt die Stadt wieder ins Spiel. Sie ist traditionell der Ort, an dem weniger sozialer Anpassungsdruck herrscht, an dem unterschiedliche Lebensstile nebeneinander friedlich leben können. Solche Städte nehmen ein freies und offenes Europa vorweg. Allerdings besteht auch hier oft die Neigung zu einer neuen Kirchturmpolitik, die nicht in einem Netzwerk mit dem Umland und den Städten lebt, sondern alles vor Ort haben will – also im Grunde die Idee einer kulturellen Autarkie: das betrifft vor allem teure infrastrukturell Kulturprojekte und andere Großbauten (Flughafen, Bahnhof, Berliner Schloss, die leicht als (kulturelle) Selbstversorgung der Eliten verstanden werden können. Städte sind selbstverständlich der Ort für die kulturelle Vielfalt! Doch die Vielfalt muss sich an der in der Stadt lebenden vielfältigen Bevölkerung orientieren. Tut sie das nicht, sind alle Städte vielfältig gleich. Und Vielfalt nicht zuzulassen, ist ja ein typischer Vorwurf gegen die Steuerung Europas aus Brüssel.
Claus Leggewie (*1950) ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) in Essen sowie des Centre for Global Cooperation Research in Duisburg. Zum Wintersemester 2015/16 wurde er zudem vom Präsidenten der Justus-Liebig-Universität als erster Amtsinhaber auf die jüngst etablierte Ludwig Börne-Professur der JLU berufen. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seine jüngsten Werke beschäftigen sich mit Partizipations-Demokratie („Die Konsultative“, 2016) und mit der Zukunft Europas („Die Anti-Europäer“, 2016). 2015 veröffentlichte er seine Memoiren „Politische Zeiten. Beobachtungen von der Seitenlinie.“ U. a. schrieb er das Buch „Amerikas Welt. Die USA in unseren Köpfen“.